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Die Gläschen

- Guten Tag, beute beginnen wir mit einem neuen Thema. Es heißt „Entwicklungstheorie“.

Hat jemand von Ihnen schon einmal irgendetwas davon gehört?

Im erleuchteten Vorlesungssaal saßen die Studenten, sowohl Jungen als auch Mädchen. Kaum hören waren die Klimaanlagen, die Wasserautomaten und all die andere Technik. An der Tafel flimmerte die Aufschrift „Theorie N° 152. Entwicklung der Technologie und des Vermögens der Anpassung“. Vor der Tafel stand ein ungefähr 28-jähriger Mann. Sein fröhliches und kluges Gesicht war von einem ßärtchen eingerahmt. In der Hand hielt er einen Bleistift, von dessen stumpfer Seite her dünne grüne Strahl eines Zeigestockes auf den Boden fiel.

Ein junger Mann, ein Afroamerikaner, meldete sich. Er trug eine Brille mit dünnem verchromtem Gestell und kaute ununterbrochen Kaugummi.

- Ja, bitte, Mätju?

- Nun, das ist ungefähr so, wie werai man Schnürsenkel erfindet und sie mit seinem Willen dazu bringt, steht selbst zuzuschnüren, ohne daß man sich dabei bückt.

Er hob sein Bein an und legte den Fuß auf den Tisch. Auf einen Wink seiner Augen hin schnürten sich die Schnürsenkel seines Sportschuhs auf, nahmen die Form eines Herzens an und bekamen dann wieder die Ausgangsform.

- Gut. Aber warum nehmen wir dieses Thema nicht in der Disziplin, nennen wir sie mal so, „Geschichten der Technologie“ durch, sondern in der Philosophie, sogar besser gesagt, in der Informationsphilosophie des Menschen? Wer weiß es?

Allgemeine Ruhe. Anscheinend hatte keiner Lust, darüber nachzudenken. Die einen spielten Spiele. Ein junges Mädchen änderte die Farbe ihrer Nägel und des Musters darauf durch eine einzige Berührung der Tönung. Alle übrigen Studenten warteten einfach auf die Antwort. Auch Mätju wollte nichts mehr sagen.

- Deshalb, Kollegen, damit Sie verstehen, daß der Mensch die höchste Form der Vernunft im Weltall ist! Im Verlaufe der letzten zwei Jahrhunderte, beginnend mit der wissenschaftlich-technischen Revolution, haben wir einen solchen Stand unserer Entwicklung erreicht, daß man mit Gewißheit sagen kann: „Der Mensch ist die höchste Form des vernunftbegabten Lebens; besser, klüger und kulturvoller als der Mensch niemand und nichts ist!“. Außer Gott, versteht sich.

Lachen ertönte.

- Ja, so lachhaftes auch klingen mag. Wir haben bis jetzt noch keine offizielle Verbindung zu Gott aufgenommen, daher auch keine überzeugenden Beweise seiner Existenz festgestellt. Wen es interessiert, der kann in den Abschnitten „Praktische Parapsychologie“ und „Metaphysik“ nachschlagen.

Natürlich hat niemand dort hineingeschaut. Keiner hatte daran Interesse. Alle warteten darauf, dass irgendjemand zu denken anfängt

- Nun, so fangen wir endlich an, - sagte der Dozent und setzte sich in den leichten anatomisch geformten Sessel, der zur Tafel rollte. Auf dem Bildschirm in der Tafelmitte erschien die Abbildung eines Glases.

- Ein wenig alt, ja? Vielleicht haben eure Omas noch solche, oder? Wiederum ist ein Lachen zu vernehmen. Im Hörsaal saßen Menschen, deren Geburtsjahre um Jahrzehnte auseinander lagen. Aber alle sahen nichtsdestoweniger wie Zwanzig - bis Fünfundzwanzigjährige aus, auf keinen Fall älter.

- Nehmen wir also einmal an, wir haben so ein gläsernes Gefäb. Und wir gehen wandern. Alle Sachen, so komisch das auch klingen mag, tragen wir in uns. Wir müssen das Gewicht verringern und alles so kompakt und praktisch gestalten, wie nur möglich. Was machen wir mit dem Glas?

- Wir machen es zusammenklappbar!

- Wir machen es flach.

- Ja, großer Gott, es ist aber doch unbequem! Es soll ein Teil vom Ganzen sein.

Noch besser aber ist es, aus dem Kraftfeld ein Glas zu machen. Und alles andere darum. Lauf nackt mit Strahler, das ist es!

Alle schauten auf das Mädchen, das mit ihren Fingernägeln beschäftigt war.

- Richtig, Vika, - sagte der Dozent. - Es stimmt schon, es ist bestimmt viel angenehmer, nackt herumzulaufen, was soll’s auch. - Und erneut wurde gelacht. - Ihr habt alle Recht. Aber die erste Meinung war die korrekteste. Denn als der Mensch das Rad erfand, kam der Wagen danach und nicht der Bolid. Alles hat sich allmählich entwickelt. Das nennt man Evolution. Das bedeutet, man muß das Glas wirklich zusammenklappbar machen.

Das können auch Zylinder sein, bei denen einer in den anderen hinein geht. Was stört uns aber bei einer solchen Konstruktion?

- Die nicht hermetische Verbindung?

- Genau! Deshalb muß das Material geändert werden, - auf der Leinwand wurden die Ringe durch andere ersetzt, durch polymorphe. Überlegen wir doch einmal: wozu brauchen wir einzelne Teile, wenn man aus diesem Material ein Teil formen kann und es dazu bringen kann, die Form anzunehmen, die wir haben möchten! Das kann auch ein Ring sein mit Membrane, - auf der Leinwand erschien ein Metallring mit einer im Inneren gespannten dunklen Haut. Aus dieser Haut gestalten wir ein Glas. Und - sagen Sie bitte, - wie muß man vorgehen, damit es erst weich wird und danach hart? Denn erst müssen wir ihm eine Form geben und danach können wir daraus trinken!

- Durch Temperatur, - sagten einige Leute gleichzeitig.

- Angenommen so geht es. Wir werden diese Prozesse durch die Temperatur regulieren. Durch Kälte soll es weich werden, durch Wärme hart. Wie soll man aber daraus im Winter trinken?

Draußen schneite es.

Der Dozent ließ seinen Blick über den Vorlesungssaal schweifen. Es war zu sehen, daß das Thema sie interessierte, aber einige begannen schon zu kauen. Zwei junge Männer spielten mit einem kleinen Roboter-Bärchen. Sie verbanden ihm die Augen und versetzten ihm einen Stoß, immer vor - zurück. Sie waren so damit beschäftigt, daß sie vor Begeisterung zu grunzen anfingen, ohne auf das Gespräch zu lauschen.

- Um das Glas herum schaffen wir eine Hölle. Machen einen Schalter, der auf die Wärme der Finger reagiert, oder zwei Fläschchen - wenn du auf das eine drückst, dann läuft es in das andere und die Eigenschaften ändern sich. Übrigens, hierbei kann man nicht nur die Temperatur ausnutzen, sondern auch chemische Reaktionen, elektischen Strom und sogar Radiation.

Alle diese Beispiele wurden an der Tafel gezeigt. Der Dozent erhob sich aus dem Sessel, ging zum Tisch hin und stützte sich auf ihm mit den Fingern ab.

- Weiter machen wir es zu einem Teil unserer Kleidung, zwingen es, sich den Befehlen unserer Gedanken zu unterwerfen und verwandeln es in eins der Universell austauschbaren Glieder der uns umgebenden Welt. Ich hoffe, Ihnen wird jetzt verständlich, warum der Mensch der Kranz der Natur ist, das kulturvollste und zivilisierteste Wesen?

Weil der Mensch sich ständig weiterentwickelt und die Welt sich anpasst. Der Mensch ist das höchste Wesen!

Es klingelt.

- Wenn es keine Fragen weiter gibt, können Sie gehen.

Alle erhoben sich und gingen drängelnd aus dem Hörsaal. Auf dem Fußboden blieb ein Dutzend Gläshen zurück, die selbständig zusammenfielen, verbrannten und zu Müll wurden. Die auf den Bänken eingeritzten Buchstaben verschwanden ebenfalls, es entstand wieder eine glatte Oberfläche. Reste von Obst, Nußschalen, Bonbonpapier, der Kopf und der Körper des kleinen Plüsch-Roboters - alles das zischte auf dem Fußboden, löste sich von selbst auf. Das Mädchen, das die ganze Zeit mit ihren Nägeln beschäftigt war, lief den Gang entlang. In ihrem Inneren löste sich innerhalb von fünf Minuten der niemandem notwendige Kranz der Naturauf.

Weil sie es satt hatte schwanger zu sein... Und gebären wollte sie auch nicht.

 

Lughans’k, 9-10.2.2003

© M. Skatchkov 2003

DIE ERZAHLUNG

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